CfP: Sozialgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit nach dem Cultural Turn

Diese Konferenz findet vom 23.11.2012-25.11.2012 in Zürich statt.

Die Kulturalisierung des Fachs Geschichte in den Jahrzehnten hat viele neue und inspirierende Themenfelder, Perspektivierungen und Methoden hervorgebracht, die zweifelsohne als eine grundlegende Bereicherung gelten können. Dabei wurde und wird zuweilen bedauert, dass mit dem „Siegeszug der Kulturgeschichte“ der Blick auf das Soziale verloren zu gehen droht. Bei einer erneuten Aufwertung der Sozialgeschichte kann es jedoch nicht um eine bloße Fortsetzung einer historischen Sozialwissenschaft gehen, da der Cultural Turn nicht nur den Blick auf die kulturellen Deutungsmuster der historischen AkteurInnen, sondern der HistorikerInnen selbst geschärft hat. Gerade für die Vormoderne stellt sich hier die Herausforderung, wie wir die Brücke zwischen unseren modernen Denkkategorien und dem historischen Material stellen. Der Brackweder Arbeitskreis lädt zur Vorstellung von Projekten ein, die anhand konkreter Thematiken auch auf diese theoretische Ebene eingehen. Als (möglicher) Anknüpfungspunkt für die methodischen Reflektionen sollen im folgenden einige Thesen dazu formuliert werden, warum „das Soziale“ wichtig bleibt und wie eine Sozialgeschichte nach den turns aussehen könnte.

1. Eine genuin historische Interpretation oder Rekonstruktion von Bedeutungen braucht die gleichzeitige Analyse von sozialen Wirkungen.

Die Einsicht, dass jede Art von Repräsentation der Wirklichkeit symbolische Konstruktion ist, hat dazu verleitet, dass der Erweis dieser symbolischen Konstruiertheit bzw. die detaillierte (Neu-)Interpretation zuweilen zum Selbstzweck gerät, ohne dass nach der Wirksamkeit bzw. Relevanz konkreter kultureller Phänomene für die historischen Akteure gefragt wird. Doch die in der gelehrten Reflexion schier unendlichen Möglichkeiten, kulturelle Artefakte und Texte zu interpretieren, sollten nicht vergessen lassen, dass in historisch konkreten Situationen keineswegs unendliche viele Möglichkeiten frei entfaltet werden können. Kulturelle Objekte oder Praktiken können als historisch spezifische deshalb nicht nur hinsichtlich ihrer Bedeutung, sondern auch in Hinblick auf ihre Wirksamkeit, ihr Verhältnis zu sozialen Zwängen und ihren Gebrauch unter situativem Druck analysiert werden. (Algazi)

2. Die Beschreibung von Kultur als know how integriert einerseits soziale, wirtschaftliche und politische Handlungsformen und kommt andererseits nicht ohne soziale (und ökonomische) Verortung aus.

Wenn Kultur als tool kit (Swidler), als strikt körpergebundes know how oder Handlungsrepertoire verstanden wird, können darunter einerseits auch Handlungsweisen verstanden werden, die sonst nicht unbedingt als „kulturelle“ aufgefasst werden – der Umgang mit Geschenken, Kreditinstrumenten oder mit Egge und Pflug ebenso wie der mit Pinsel und Schreibwerkzeug. Anderseits ist der Blick auf die konkreten Akteure, die Träger dieses „kulturellen Kapitals“ (Bourdieu) unumgänglich, und das heisst auch: der Blick auf den Aufwand an Ressourcen und die Bedingungen, unter denen Handlungsrepertoires weitergegeben werden, auf die Form der Beziehungen, Institutionen und Netzwerke, die für die Strukturierung, die Reproduktion oder Umformung und den Transfer von Handlungsrepertoires sorgen.

3. Die Fokussierung auf soziale (oder kulturelle) Praktiken erlaubt eine Erforschung und Darstellung historischer Phänomene jenseits des Dualismus von Struktur und Akteur, jenseits von Reproduktion und Transformation.

Im Unterschied zu Bourdieus „Entwurf einer Theorie der Praxis“ betonen neuere praxeologische Ansätze neben der für etablierte Praktiken charakterisitischen Repetetivität und Strukturiertheit stärker deren Variabilität. Zudem werden die Praktiken, die historische Akteure beherrschen, dabei als grundsätzlich heterogen und nur als lose gebündelt gedacht (Swidler). Die Beobachtung und Analyse von Praktiken eignet sich zu kontrollierten Rekonstruktion sozialer Gebilde, ohne vorgängig mit Großkategorien(Klasse, Stand, Schicht) setzen zu müssen. Sie bietet die Möglichkeit, historische Veränderung und Verstetigung gleichermaßen zu beschreiben. Die Aufgabe, zufällige Kohärenzen, funktionale Zusammenhänge oder die systemische Aggregation von Praxiskomplexen zu beschreiben, ist eine Herausforderung nicht nur für KulturhistorikerInnen (Reckwitz).

4. Die Betonung der Materialität kultureller Artefakte verändert die Konzeption des Sozialen.

Während soziale Beziehungen herkömmlich als solche von Menschen untereinander gedacht werden, müssen wir darüber nachdenken, ob auch materielle Objekte in der Konzeptualisierung des Sozialen ihren Platz finden müssen. Menschen hantieren tagtäglich mit verschiedensten Dingen, die Handlungen maßgeblich mitstrukturieren (Reckwitz). Prinzipiell ist dabei aber zu betonen, dass die Beziehung von Menschen zu Dingen in der Regel die Beziehung zu anderen Menschen impliziert. Das betrifft den Umgang mit Dingen (Herstellung, Gebrauch, Konsum), der in der Regel von anderen Menschen gelernt wird, aber auch deren Verfügbarkeit (Nutzungsmöglichkeit, Besitz, Eigentum).

Willkommen sind Beiträge von NachwuchswissenschaftlerInnen (30min), die anhand eines konkreten Projektes grundsätzliche methodische Fragen zur Sozialgeschichte nach dem Cultural Turn thematisieren, wobei das Verhältnis zwischen Fallstudie und expliziter theoretischer Reflektion unterschiedlich gewichtet werden kann. Wir begrüßen ebenfalls Beiträge aus anderen Disziplinen als der Geschichtswissenschaft. Zuschüsse zu Fahrt- und Übernachtungskosten sind beantragt, können aber nicht garantiert werden. Beiträge mit einem kurzen abstract sind bis zum 30. Juni 2012 willkommen.

Kontakt:

Almut Höfert
Historisches Seminar der Universität Zürich
Karl-Schmid-Strasse 4
CH-8006 Zürich
Tel.: +41 44 634 2790
Tel.: +41 44 634 4913
E-Mail: almut.hoefert@uzh.ch

Literatur als mögliche Anregung:
Gadi Algazi, Kulturkult und die Rekonstruktion von Handlungsrepertoires, in: L’homme: Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 11,1 (2000), S. 105-119; Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1979; Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen 1983, S. 183–198; Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. In: Ders.: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld 2008, S. 97–130; Ann Swidler, Culture in Action. Symbols and Strategies. In: American Sociological Review 51,2 (1986), S. 273–286.